Vorwärts in die Vergangenheit
Als Kinder sind wir über den Rhein gerudert. Mit einem alten eisernen Nachen, der am Anleger des Fährschiffs Henny festgemacht war. Von hier auf die andere Seite und wieder retour. Hier das heimische Köln-Niehl mit hoher Kaimauer, vielen Häusern, Schule, jeder Menge Gewerbe, einer langsam aber sicher ausufernden Industrie. Und Eltern, die mit Vorschriften, Verboten und Regeln versuchen, ihre Sorgen um uns einzudämmen. Auf der anderen Seite – Freiheit. Keine Häuser, keine Industrie, keine Eltern. Nur Wald, Wiesen, Felder und ein warmer Sandstrand mit sanft abfallendem Flussgrund zwischen den Buhnen. Für uns Kinder der 1950er und 1960er Jahre ist es das Bade- und Erlebnisparadies auf Erden.
Manchmal nimmt uns der Fährmann Fritz „Utz“ Bilstein auf seiner Personenfähre „Henny“ kostenlos mit. Ein pochender Zweizylinder-Dieselmotor schiebt das zierliche Boot durchs Wasser und lässt uns beim Übersetzen von Seereisen in fremde Länder auf fernen Kontinenten träumen. Mystische Orte wie Maracaibo, Hispaniola, Dar-es-Salam, Fidji oder Maui geistern durch unsere Köpfe und stärken die Abenteuerlust.
Fährmann Utz ist für uns ein Bruder im Geiste, spinnt zuweilen hochspannendes Seemannsgarn aus längst vergessenen Zeitfadenspulen. Und schwört wiederholt gegenüber unseren Eltern Meineid, dass er uns auf die paradiesische Seite übergesetzt hat. Obwohl wir – wie fast immer – verbotenerweise rüber gerudert sind. Utz und Henny bereichern als fester, integraler Bestandteil das noch dörflichen Lebens in den Gemeinden dies- und jenseits des Rheins.
Kein Bedarf – keine Rheinfähre
Ob das nicht gefährlich ist, den Rhein rudernd und verbotenerweise zur queren, wegen Schiffsverkehr oder Strömung? Und Schwimmen im Rhein bei Sog und Wellen ist doch nur was für Lenbensmüde? Klar ist es das. So wie vieles in diesen Dekaden. Beispielsweise als Kind im Auto, zwischen den Vordersitzen im Fond stehend und den Zigarettenqualm der Eltern einatmend. Oder helmfreies Fahrradfahren auf vornehmlich für Autos konzipierten Verkehrswegen. Oder Rollschuhlaufen ohne Plastikrüstung. Zum Glück sind wir Baby Boomer so zahlreich. 35 Kinder in einer Klasse sind nicht die Ausnahme, sondern die Regel. Deshalb bleiben genug von uns übrig, um der jungen urbanen Generation anno 2023 ein veritables Feindbild in Sachen Ressourcenverschwendung zu geben.
Industrie und Klärwerk-freie Kommunen versuchen dann im aufstrebenden Deutschland der 1970er vergeblich, unseren Rhein final zu vergiften. Als tausende Fische bauchoben auf dem Rhein treiben, wird auch dem letzten Wirtschaftskapitän oder Bürgermeister klar, dass unser Rhein ein schützenswertes Gut und keine Kloake ist. Zu diesem Zeitpunkt ist uns das Schwimmen und Baden im Rhein längst vergangen. Und die Henny existiert nicht mehr. Die Verkehrswende hin zum Automobil und der Bau einer Autobahnbrücke in der Nachbarschaft hat die seitenwechselwillige Kundschaft übernommen. Eine Fähre ist überflüssig.
Mut zur Wendewende
Wenn wir zweimal wenden, fahren wir wieder in dieselbe Richtung. Klingt logisch, ist es auch. Vollziehen wir die 180-Grad-Wende der 1960er erneut – weg von den damaligen Hauptverkehrsträgern wie per Pedes, Fahrrad oder rudimentärem ÖPNV hin zum Automobil – landen wir wieder bei den damaligen Verkehrsträgern. Heute freiwillig aus Überzeugung, nicht wie damals aus der Not geboren. Heute wie damals nachhaltig, klimaneutral und gesund. Aber deutlich komfortabler: moderne Tourenräder mit 24-Gang-Schaltungen, Federbeinen und Scheibenbremsen, E-Bikes, Lastenräder, Carbon-Rennmaschinen oder edle Vintage-Räder machen das Rennen, Gleiten, Cruisen, Transportieren zum Genuss. Früher gibt es das Einheitsfahrrad mit 24,- 26-, oder 28-Zoll-Rädern, wahlweise in der Damen- oder Herrenversion. Und wer ganz großes Glück hat, strampelt mit Torpedo-Dreigang-Schaltung und hat ein Tacho von VDO.
Mit dieser Doppelwende rückt eine alte Bekannte in den Fokus. Wir erinnern uns an Utz Bilstein und seine „Henny“. „Mensch, wäre doch klasse, wenn diese Fähre aufersteht!“, blitzt es da durch unsere Kölner Hirnsynapsen. Die stetig sich verändernde Nutzung der Verkehrsmittel hin zu Fahrrad, E-Bike und Co. in den letzten Jahren macht eine Verbindung über den Rhein mit neuer Fähre an alter Strecke tatsächlich wieder sinnvoll. Also nicht zurück in die Zukunft, sondern vorwärts in die Vergangenheit.
Fährrückt, klimapositiv und nachhaltig
Gedacht – gesagt – geplant. Unser Verein Fährkultur Köln-Nord e.V. hat sich zum Ziel gesetzt, die Henny zu reanimieren. Neben Erholungssuchenden wollen wir mit der neuen alten Verbindung Berufspendler überzeugen, ihr Auto gegen das Rad oder E-Bike zu tauschen und so die Verkehrswende aus den 1960er Jahren umzukehren. Das ist dringend nötig, gehört unser Köln doch regelmäßig zu den jährlichen Top 3 deutscher Stauhauptstädte und lechzt nach klimaneutraler und nachhaltiger Mobilität.
Der Umstieg würde unsere gebeutelte innerstädtische Umwelt und die hochfrequentierten Verkehrswege gleich doppelt entlasten. Einerseits durch den Umstieg vom Auto aufs (E-)Bike, andererseits durch unsere moderne Interpretation der Henny. Denn wir planen nicht weniger als einen Paradigmenwechsel in der Fährschifffahrt. Rein elektrisch soll unsere Rheinfähre nachhaltig und klimaneutral auf dem Weg von einem zum anderen Ufer leise vor sich hin summen. Der benötigte Strom wird aus dem Strom gewonnen. Im Anlege-Ponton der Elektrofähre sollen Wasserturbinen integriert werden, die 24/7 das ganze Jahr über Elektrizität erzeugen. Nach Berechnungen unserer Partner in Sachen „Strom aus dem Strom“ reicht die Kapazität dicke für den täglichen Fährbetrieb. Kurz – wir bauen mit unserer Elektrofähre nicht weniger als ein Perpetuum mobile. Physiker und E-Techniker mögen mir das etwas schiefe Bild verzeihen
Pegelt sich ein: Zuverlässigkeit der Fähren in Köln
Zu Hennys Zeiten gibt es noch keinen Fahrplan. Utz Bilstein fährt nach Bedarf. Wer gut bei Stimme ist, hat einen klaren Vorteil. Ist die Henny am anderen Rheinufer festgemacht, reicht ein kräftig-kölsches „Utz! Hol üvver!“. Die akustische Rückkoppelung in Form des startenden Fährmotors gibt alsbald Gewissheit, das Utz Bilstein Kurs Richtung anderes Ufer nimmt. Solch charmante Interaktionen zwischen Fährkapitän und Passagieren sind in unserem durchgetakteten Alltag anno 2023 undenkbar. Hohe Zuverlässigkeit ist eine notwendige Voraussetzung für den Betrieb unserer Fähre im täglichen Regelverkehr von 6 Uhr morgens bis 20 Uhr abends. Besonders die Berufspendler, eine der wichtigsten Zielgruppen unseres Projektes, müssen sich auf pünktliche Verbindungen nach einem festen Fährplan verlassen können.
Damals wie heute unterliegt der Fährverkehr am Rhein Bedingungen, die wir nicht beeinflussen können. Da ist zum Beispiel der Pegelstand des Rheins. Wir haben deshalb eine Wasserstandanalyse des Rheins durchgeführt. Die Fähre kann an den geplanten Anlegestellen Rampe Köln-Niehl und Aue Köln-Flittard ab einem Rheinpegel Köln von 70 Zentimeter bis zu einem Wasserstand von 680 Zentimeter in Betrieb gehen. Unter- und oberhalb dieser Marken ist ein Fährbetrieb aus topografischen Gründen nicht möglich: Wir können die Anlegestellen nicht mehr erreichen. Nach unseren Untersuchungen der Pegelstände der letzten zehn Jahre würde der Fährbetrieb an 10 Tagen im Jahr zum Erliegen kommen. Passagiere von FährKultur werden sich ab dem Start der Fähre in Echtzeit über den aktuellen und zu erwartenden Wasserstand informieren können und so rechtzeitig auf andere Verkehrsmittel ausweichen.
Nebel, seemännisch auch „Undurchsichtiges Wetter“ genannt, ist übrigens kein Hinderungsgrund für eine Fährfahrt. Die Kapitäne der elektrischen Rheinfähre behalten dank Radar auch unter solchen Bedingungen den Durch- und Überblick auf dem Rhein.
Faltenreich in die Zukunft: Rheinfähre aus Papier
Auch wenn wir als ältere Generation nicht mehr durch den Rhein auf die andere Seite rudern, holen wir uns einen Teil unserer Jugend und Kindheit mit der neuen alten Fähre zurück. Und das Beste daran: unsere Kinder und Enkel können daran teilhaben. Unser Vorschlag: Weil das noch etwas Geduld erfordert, bis die Enkelin der Henny elektrisch über das Wasser summt, spielen wir erst einmal am Rheinufer Zukunft. Aus alten Zeitungen entstehen Papierfähren mit Namen wie Fährdinand, Fähry oder Rheinfährt. Kaum vom Stapel gelassen, treiben die gefalteten Druckwerke unter sehnsüchtigen Blicken flussabwärts. Auch Strandgut begeistert als hervorragendes Baumaterial für Fähren aller Art. Traumhafte Schwimmzeuge entstehen durch Phantasie, Geschick und Ausdauer. Bilder vom Stapellauf nehmen wir gerne entgegen. Entweder über [email protected] oder postet die Kreationen auf unserem Facebook-Kanal.
Begeistert und/oder interessiert am Projekt FährKultur Köln-Nord? Bitte nutzt unsere Kommentarfunktion. Oder – noch besser – engagiert euch bei FährKultur Köln-Nord. Als aktives oder passives Mitglied, als Sponsor oder Investor, als Fährkapitän, als Meinungsbilder…. Infos dazu HIER.
Axel Lengert
Gründungs- und Vorstandsmitglied von FährKultur Köln-Nord e.V.